Die seltsame Geschichte um den in Wien verhafteten und schnell freigelassenen Ex-KGB-Offizier Michail Golowatow erhält durch dessen eigene Aussagen in russischen Medien und die widersprüchlichen Angaben der österreichischen Justizbehörden fast täglich neue Brisanz.

Diese bestätigen die Schlussfolgerung des Innsbrucker Russland-Experten Gerhard Mangott in seiner ausgewogenen Darstellung des erklärungsbedürftigen Falles (vgl. der Standard, 22.7.), dass unabhängig von der nüchternen Abwägung der nationalen Interessen Österreichs die "handwerkliche" Ausführung der frühzeitigen Enthaftung bemerkenswert ungeschickt erfolgt sei.

Dass in der Blutnacht am 13. Jänner 1991 in Vilnius die vom Golowatow befehligte KGB-Sondereinheit Alfa 14 Zivilisten tötete, um den Fernsehsender in Vilnius zu besetzen, und dass die (gespaltene) Sowjetführung unter Gorbatschow durch solche gewaltsamen Aktionen den Austritt Litauens aus der UdSSR zu verhindern versuchte, gehört zur Vorgeschichte des Zerfalls des russischen Kolonialreiches.

Auch nach 20 Jahren bleibt die Erinnerung an die ermordeten Demonstranten ebenso ein unauslöschlicher Teil der nationalen Identität in Litauen wie das schmerzhafte Gedenken an die dreifache, abwechselnd sowjetische, dann deutsche und dann wieder sowjetische Okkupation. Nur vor diesem Hintergrund kann die gesamte baltische, für ausländische Beobachter überzogen anmutende Reaktion auf die schnelle Enthaftung Golowatows verstanden werden.

Man darf freilich nicht vergessen, dass seit der Ausstellung des litauischen Haftbefehls im Oktober 2010, Golowatow - jetzt unter anderem Vizepräsident des russischen Skiverbandes - mit seinem von Finnland ausgestellten Schengen-Visum problemlos fünfmal in Finnland, zweimal in Tschechien und einmal in Zypern einreisen konnte.

Dass bei dem undurchsichtigen Fall die "Kniefälle" (Peter Pilz) der Vergangenheit (wie beimOpec-Überfall 1975 und bei dem Kurdenmord 1990) hierzulande kritisch in Erinnerung gerufen werden, ist verständlich und richtig. Das "wachsame" Österreich gilt allerdings wieder einmal als Prügelknabe und wird in Karikaturen baltischer Zeitungen als Schoßhund von Hitler und Putin, als Stiefellecker der Diktatoren dargestellt.

Doch muss gerade im Fall Litauens die Pauschalverurteilung der II. Republik als Hort der NS-Nostalgie zurückgewiesen werden. Es gibt nämlich keinen Grund für ein abfälliges Moralisieren in Vilnius gegenüber der österreichischen Politik.

Bei allem Verständnis für die Traumata aus den Jahrzehnten der Verbrechen Stalins und seiner Nachfolger empfiehlt sich auch ein Seitenblick auf die eigene unverarbeitete Vergangenheit Litauens. Nach dem deutschen Einmarsch entpuppten sich nämlich laut allen Holocaust-Studien die litauischen Hilfspolizeieinheiten als die brutalsten Vollstrecker der von Hitler-Deutschland betriebenen Endlösung: Fast alle Juden, insgesamt 210.000, wurden in Litauen umgebracht.

Das Wahrheitsgebot gerade in der europäischen Politik erfordert in dem höchst sensiblen Fall Golowatow auf allen Seiten die Vermeidung von nationalen Lebenslügen. (Paul Lendvai, STANDARD-Printausgabe, 26.7.2011)